#41 Re’eh – „Siehe!“
Re’eh
5. Mose 11,26-16,17
Jesaja 66,1-24; Johannes 6,35-51
Wir können davon ausgehen, dass es keinen überflüssigen Vers in der Bibel gibt. Jedem einzelnen Buchstaben und jeder Aussage ist eine Bedeutung gegeben, die sich nicht nur in der wörtlichen Botschaft, sondern auch in der Position innerhalb der Torah offenbart.
Damit meine ich beispielsweise, dass es einen Sinn hat, wenn zwei gleich erscheinende Aussagen nebeneinander stehen. Dabei handelt es sich in der Regel nicht um die bloße Wiederholung des bereits Gesagten, sondern um eine neue Information. In der Lesung Re’eh haben wir einen solchen Fall.
Das Schlachten der Tiere in der Wüste
Innerhalb des Textes von Re’eh erfahren wir, dass die Israeliten im Land auch zu Hause schlachten durften. Die entsprechenden Texte dazu sehen wir uns gleich an, doch zunächst wollen wir klären, wie die Israeliten in der Wüste an Fleisch kamen.
Grundsätzlich müssen wir unterscheiden, welche Tiere als Opfer geeignet waren und welche nicht. Wachteln zum Beispiel waren keine Opfertiere. Sie konnten überall geschlachtet und zubereitet werden. Auch Gazellen oder Hirsche waren essbar, aber nicht als Opfer geeignet. Sie konnten überall geschlachtet werden.
Anders verhielt es sich mit den Opfertieren wie Schafen, Rindern oder Ziegen. Wer solche Tiere essen wollte, musste sie als Friedensopfer darbringen (Vgl. 3. Mose 3). Damit durften nur reine Menschen davon essen (Vgl. 3. Mose 7,19).
Diese Grundsätze galten, solange Israel in der Wüste war. Denn in der Wüste war die Stiftshütte jederzeit zu Fuß erreichbar. Sie war der Mittelpunkt des Lagers, und jeder konnte seine Schlachttiere dorthin bringen. Es war sogar streng verboten, die Tiere an einem anderen Ort als der Stiftshütte zu schlachten.
Darum sollen die Kinder Israels von nun an ihre Schlachtopfer, die sie [jetzt noch] auf freiem Feld opfern, vor YHWH bringen, an den Eingang der Stiftshütte zu dem Priester, um sie dort YHWH als Friedensopfer darzubringen. Und du sollst zu ihnen sagen: Jeder Mensch aus dem Haus Israel oder jeder Fremdling, der unter ihnen wohnt, der ein Brandopfer oder ein Schlachtopfer opfern will, aber es nicht vor den Eingang der Stiftshütte bringt, damit er es YHWH opfere, der soll ausgerottet werden aus seinem Volk. (3. Mose 17,5.8-9)
Was sollte im Land gelten?
In der Lesung Re’eh erfahren wir, dass die Regeln für das Schlachten der Opfertiere im Land etwas modifiziert wurden. Es heißt dort:
Ist aber der Ort, den YHWH, dein Gott, erwählt hat, um seinen Namen dorthin zu setzen, zu fern von dir, so darfst du von deinen Rindern oder von deinen Schafen schlachten, die YHWH dir gegeben hat — wie ich dir geboten habe —, und es in deinen Toren essen nach aller Herzenslust. (5. Mose 12,21)
Grundsätzlich sollten alle Opfer, Zehnten und Erstlinge in den Tempel gebracht werden. Dies blieb für alle Israeliten verbindlich (Vgl. 5. Mose 12,11). Wenn aber der Ort des Heiligtums für einen Hebräer zu weit entfernt war, durfte er Fleisch für den täglichen Gebrauch auch zu Hause schlachten.
Es gibt jedoch zwei merkwürdige Dinge in dem oben zitierten Vers, denen wir nachgehen wollen. Ein Blick auf unseren großen Bruder Juda kann helfen, die Fragen zu klären, die sich hier stellen.
Wiederholt Re’eh dieselbe Aussage?
Die Aussage, dass die Hebräer im Land Tiere auch zu Hause schlachten durften, finden wir schon einige Verse weiter oben.
Doch kannst du nach Herzenslust schlachten und Fleisch essen, nach dem Segen YHWHs, deines Gottes, den er dir gegeben hat, in allen deinen Toren; der Unreine oder der Reine darf davon essen, wie von der Gazelle oder von dem Hirsch. (5. Mose 12,15)
Warum wiederholt Gott eine Aussage innerhalb von 6 Versen? Glaubt er, dass wir sie sonst nicht verstehen würden? Oder handelt es sich um zwei verschiedene Aussagen?
Interessant ist, was Rashi dazu sagt. Er geht davon aus, dass es sich bei den Tieren in Vers 15 um diejenigen handelt, die zwar als Erstlinge oder Zehnten vorgesehen waren, aber wegen eines Makels nicht mehr als Gabe taugten. Folglich mussten sie ausgelöst und konnten dann von ihren Besitzern gegessen werden.
Demnach wären die beiden Verse zwei verschiedene Aussagen und keine Wiederholungen. Auch der von Rashi vorgeschlagene Kontext macht durchaus Sinn, denn in den folgenden Versen warnt Gott erneut, dass kein Israelit vom Zehnten, von der Erstgeburt oder von anderen freiwilligen Gaben essen dürfe (Vgl. 5. Mose 12,17-18).
Wir sehen, dass es sich lohnen kann, einen Blick in die jüdischen Auslegungen zu werfen, um weitere Details zu erfahren und die Tora besser zu verstehen.
Wann hat Gott geboten, wie Tiere außerhalb des Heiligtums zu schlachten sind?
Doch in 5. Mose 12,21 gibt es noch eine andere Besonderheit, die wir uns ansehen wollen. Es handelt sich um die Formulierung „wie ich dir geboten habe“.
Im Kontext geht es um das Schlachten von Rindern oder Schafen (Ziegen sind hier auch gemeint) außerhalb der Stiftshütte bzw. des Tempels. Es handelt sich also nicht um Opfer, sondern um profane Schlachtungen auf dem heimischen Altar.
Hier stellt sich aber die Frage: Wann hat Gott darüber gesprochen?
Wir haben umfangreiche Beschreibungen für die Darbringung von Opfern. Wir wissen, dass wir kein Blut von Tieren essen dürfen. Aber wo lesen wir von der Schlachtung der Tiere zu Hause?
Ich lasse diesen Punkt einmal offen, weil ich ihn auch nicht abschließend klären kann. Für Juden liegt die Lesung auf der Hand. Sie gehen davon aus, dass es neben der schriftlichen Überlieferung eine mündliche gegeben hat und Gott dem Mose in diesem mündlichen Teil Anweisungen zum Schlachten gegeben hat. Daraus entstanden Teile des Talmuds und der Mischna wie etwa das Traktat Chullin 28a.
Vielleicht sind aber auch einfach die Prinzipien aus den Opferungen gemeint, die für das häusliche Umfeld übernommen werden können, wie etwa das Durchtrennen der Kehle.
Was meint ihr, worauf sich die Formulierung „wie ich dir geboten habe“ in 5. Mose 12,21 bezieht? Ich würde mich über Vorschläge in den Kommentaren freuen.
Bildquelle: Unsplash.com
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