#30 Kedoschim – “Heilige”
Kedoschim
3. Mose 19,1-20,37
Amos 9,7-15; Matthäus 12,28-34
Die Lesung Kedoschim enthält eine der bekanntesten Gebote in der Bibel. Es handelt sich dabei um die Forderung der Nächstenliebe. Auch wenn das Gebot meist aus dem sogenannten Neuen Testament zitiert wird, kommt es doch zuerst im Buch Leviticus vor.
Du sollst nicht Rache üben, noch Groll behalten gegen die Kinder deines Volkes, sondern du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Ich bin YHWH. (3. Mose 19,18)
Der Kern des Verses
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst, ist eine Forderung, die wir kennen. Aber haben wir auch verstanden, was der Vers tatsächlich von uns erwartet?
Werfen wir einmal einen Blick in den hebräischen Text der zweiten Hälfte von 3. Mose 19,18:
וְאָֽהַבְתָּ֥ לְרֵעֲךָ֖ כָּמ֑וֹךָ אֲנִ֖י יְהֹוָֽה׃
(3. Mose 19,18b)
Der hebräische Text entspricht dem fett gedruckten Teil des oberen Zitats. Allerdings fällt auf, dass dem Wort für Nächster (רֵעַ rea) ein Lamed (der 12. Buchstabe des hebräischen Alphabets) vorangeht. Das Lamed als Präfix drückt die Präposition “zu” aus. Diese Präposition ist aber für die Formulierung “den Nächsten lieben” nicht notwendig.
Streng genommen müssten wir den Text wie folgt übersetzen:
… sondern du sollst zu deinem Nächsten lieben wie dich selbst…
Die Übersetzung ist etwas holprig. Der hebräische Text lässt sich eben nicht 1:1 ins Deutsche übersetzen. Dennoch weist die ungewöhnliche Grammatik uns auf eine Besonderheit und Tiefe im Vers hin.
Die Deutung
Ich möchte hier einmal einen Vorschlag machen, was die Präposition bedeuten könnte und was Gott von uns erwartet. Es geht nicht nur darum, den Nächsten zu lieben.
Vielmehr sollen wir auch den Weg, der uns zum Nächsten führt, alle Verbindungen und alle Erfahrungen, die wir mit ihm machen, lieben. Am Ende sind sie ein Teil von uns, denn Gott stellt uns unsere Mitmenschen mit einem bestimmten Ziel ins Leben. Jede Beziehung, das gemeinsame Glück, aber auch das Leid und die Konflikte tragen dazu bei, dass wir zu den Menschen werden, die Gott sich vorstellt – seine Ebenbilder auf Erden.
Und so sollten wir auch keinen Groll gegen unsere Feinde oder Menschen, die uns verletzt haben, hegen. Sie sind in unserem Leben, weil Gott sie dahin gesetzt hat. Sie erfüllen einfach ihren Zweck.
Abschluss
Ich möchte diese Betrachtung von 3. Mose 19,18 noch mit Worten von Rabbi Samson Raphael Hirsch abschließen. Dieser deutsche Rabbi aus dem 19. Jahrhundert verfasste zahlreiche Kommentare zu den biblischen Schriften. Seine Worte zum obigen Vers sind so schön, dass ich hier einen Ausschnitt davon teilen möchte:
ואהבת לרעך כמוך, der geistig und sittlich vollendete Mensch liebt sein eigenes Wohl auch nur aus demselben Motive und in derselben Gesinnung, wie er dem Wohle des Nächsten liebend zugetan ist. Seine Selbstliebe ist auch nur Pflichtbewußtsein, er sieht in sich selber auch nur das gottheilige Gottesgeschöpf, ihm anvertraut, auf daß er es nach Gottes Bestimmung alle die leibliche, geistige und sittliche Vollendung erreichen lasse, für welche Er es ins irdische Hiersein gesetzt und ihm die Anweisung in seinem Gesetze erteilt. Ganz so und aus demselben Pflichtbewußtsein wendet er seine Liebe dem Wohle des Nächsten zu, liebt in ihm das ihm gleiche Gottesgeschöpf und bekundet seine Liebe zu Gott in der Liebe zu seinen Geschöpfen, אוהב את המקום אוהב את הבריות.
Quelle: Sefaria.org/
Bildquelle: KI generiert (DALL-E 3)
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