Parascha ‚haAsinu‘ -הַאֲזִינוּ =„horchet auf (ihr Himmel)”
Parascha ‚haAsinu‘ –הַאֲזִינוּ =„horchet auf (ihr Himmel)”– 5. Mose (dvarim) 32, 1–52;
V1) „Horchet auf – הַאֲזִינוּ haAsinu ihr Himmel, [denn] ich will reden, und [es] höre die Erde die Worte meines Mundes!“
= So beginnt der Tora-Abschnitt haAsinu, in welchem Mosche ein lyrisches Gedicht seinem Volk als prophetisches Zeugnis zu einem „letzten“ Vermächtnis vor seinem Tod übergibt. Hebräisch wird es schira שִׁירָה als weibliche Form von Schir שִׁיר = „Lied“ genannt, das nicht nur Israels Geschichte zusammenfasst, sondern auch seine Zukunft vorzeichnet.
Obwohl Mosche der Sprecher ist, redet er hier im Namen des Allmächtigen. Dabei gilt der erste Aufruf an Himmel und Erde – sie sollen aufmerksam zuhören. Denn sie sind nicht bloß Kulisse, sondern werden zu überzeitlichen Zeugen einberufen: Zeugen für die Treue des Allmächtigen im Gegensatz zur Untreue Israels.
Mosche trug diese Hymne gemeinsam mit Je‘hoschua (= Josua) vor, wie in Kapitel 31, 19 und 28 beschrieben. Das gesamte Volk samt Ältesten und schotrim (= „Ordnungs- und Verwaltungshütern“) hatte sich vor dem Mischkan (Stiftshütte) dazu versammelt. Dass die Auswahl von Himmel und Erde zu Zeugen erkoren wurden, unterstreicht die Ernsthaftigkeit und Universalität der Botschaft: Denn sie überdauern Generationen und sind unbestechlich.
V2) Es träufle wie der Regen meine Lehre, es triefe wie der Tau meine Rede – wie Regenschauer auf frisches Grün, wie Tropfen auf [welkendes] Kraut!
= Weil diese Lehrrede so wichtig ist, deswegen beschreibt Mosche ihre Wirkung mit vier Naturbildern: Regen, Tau, Regenschauer und Tropfen. Der Vergleichspunkt liegt in der erquickenden, befruchtenden und belebenden Kraft des Taus und Regens. Dies möge das Lied auf die Herzen der Hörer ausüben.
Die Lehre, die der Ewigen durch seinen Diener Mosche hier übermittelt, soll nicht wie ein Donnerschlag treffen, sondern wie Regen auf dürstendes Land fallen – erfrischend, belebend, fruchtbar machend. Tau und Tropfen wirken leise, aber nachhaltig. So möge auch die Lehrbotschaft dieser Schira ‚haAsinu‘ in die Herzen der Hörer durchdringen und sie zur Umkehr und Erkenntnis führen.
Die vierfach gestaffelte Bildsprache betont, dass Gottes Wort in unterschiedlichen Intensitäten wirkt: mal sanft wie Tau, mal kräftig wie Regenschauer. Doch immer mit dem Ziel, Leben zu fördern und geistliches Wachstum zu ermöglichen.
An dieser Stelle erfolgt wieder eine geordnete Übersicht der Inhalte dieses Leseabschnitts:
V1–6: Einleitung des Liedes
- Mosche ruft Himmel und Erde zu Zeugen auf: „Horchet auf, ihr Himmel…“;
- er preist die Gerechtigkeit des Ewigen und kritisiert Israels Undankbarkeit;
- die Betonung liegt auf: der Ewige ist gerecht, das Volk hingegen hat sich verdorben;
V7–12: Rückblick auf die Geschichte Israels
- Erinnerung an die Vorväter und die göttliche Führung;
- der Allmächtige hat Israel durch die Wüste geführt, sie dabei beschützt und wie ein Adler getragen;
- Israel wurde als besonderes Volk abgesondert und behütet;
V13–18: Wohlstand und Abkehr
- Beschreibung des Segens: Israel erhielt Nahrung, Reichtum und Sicherheit;
- doch inmitten des Überflusses vergaß das Volk seinen Ursprung;
- es verliess seinen Elohim und diente fremden Göttern – ein Akt der Untreue;
V19–29: die Reaktion Elohims: hester-panim – הֶסְתֵּר פָּנִים [1] die Verhüllung seines Angesichts/seiner Gegenwart
- Gott zog sich zurück, und ließ Israel in die Konsequenzen seines Handelns laufen;
- dennoch: der Ewige vernichtete das Volk nicht völlig, um Seinen Namen unter den Nationen zu bewahren;
- Mosche beklagte Israels mangelnde Einsicht und Weisheit;
V30–39: JaH bleibt der gerechte Richter
- der Ewige allein ist Israels Retter – keine fremden Götter können helfen;
- er verwundet und heilt, tötet und belebt;
- der Allmächtige wird sich seines Volkes wieder annehmen und seine Feinde richten;
V40–43: Zusicherung der Erlösung
- der Ewige schwört: Er wird Rache an Israels Feinden nehmen;
- die Nationen werden aufgefordert, sich über Gottes Volk zu freuen;
- Elohim wird sein Volk reinigen und versöhnen;
V44–47: Mosches letzte Mahnung
- Mosche und Je‘hoschua trugen dieses Lied dem Volke vor;
- Mosche betont: Diese Worte sind lebenswichtig – keine leere Rede;
V48–52: Mosches Abschied
- der Ewige befiehlt Mosche, den Berg Nevo zu besteigen;
- von dort durfte Mosche das Land sehen, aber nicht betreten;
- dann wurde sein Tod angekündigt – als Folge früherer Verfehlungen;
Dvarim 32 ist also kein bloßes poetisches Beiwerk, sondern eine gewaltige Lehrrede, in welcher Himmel und Erde zu Zeugen bestellt werden, weil sie die ganze Geschichte Israels mittragen und bezeugen. Die Pointe der Hymne liegt nicht in einem einzelnen Vers, sondern in der Gesamtstruktur des Liedes: Es ist ein Bundeslied, das Israel in folgende Fakten in Erinnerung rufen soll:
1. – der Ewige ist treu und fürsorglich, V. 1–14;
- Elohim wird als Fels, Vater, Adler beschrieben – Bilder für Beständigkeit, Liebe und Schutz;
- Israel wurde aus der Wüste geführt, versorgt, erhöht – alles aus Gnade;
2. – Israels Undank und Abfall, V. 15–18;
- das Wohlergehen führte zur Selbstvergessenheit;
- Israel lief fremden Göttern nach – ein Bruch des Bundes.
3. – es folgte das gerechtes Gericht Elohims, V. 19–33;
- der Allmächtige zog sich zurück, und ließ Feinde über Israel herrschen;
- das Gericht war keine Willkür, sondern die Antwort auf den Abfall;
4. – Gottes Erbarmen und Wiederherstellung, V. 34–42;
- Gottes Zusage bleibt: er wird Israel retten und seine Feinde richten;
- das Lied endet mit einem Ausblick auf Gottes endgültige Gerechtigkeit;
5. – Mahnung zur Treue, V. 43–47;
- „Denn es ist zu euerem Leben“ – כִּי-הוּא חַיֵּיכֶם ki hu chaijechem
= die Tora ist nicht Beiwerk, sondern Lebensquelle!
Und die tiefere Botschaft ist nicht nur: „Haltet die Tora!“ – sondern:
Der Ewige bleibt treu, auch wenn Israel versagt. Gottes Gerechtigkeit umfasst Gericht und Gnade.
Diese schira ist ein Zeugnis, das Israel durch alle Zeiten begleiten soll – als Mahnung, Trost und Hoffnung.
Schließlich hat die Schira ‚haAsinu‘ in der jüdischen Geschichte eine tiefgreifende und bleibende Bedeutung erlangt, und das sowohl liturgisch als auch spirituell, pädagogisch und prophetisch.
Die Bedeutung der schira ‚haAsinu‘ in der jüdischen Geschichte bis zur Gegenwart
als prophetisches Testament ist sie eine Zusammenfassung der Beziehung zwischen Elohim und Israel – Erwählung, Abkehr, Strafe, Erlösung;
sie ist ein pädagogische Lehrgedicht:
Die Tora fordert, es den Kindern zu lehren, Dvarim 32, 46;
In der rabbinischen Tradition gilt sie als verdichtete Darstellung von göttlicher Führung, moralisch-ethischer Verantwortung und kollektiver Geschichte;
sie ist liturgisch eingebunden:
einzelne Verse erscheinen in Slichot (Bußgebeten) und Midraschim;
sie wird jährlich vor Sukkot gelesen;
sie ist Warnung und Trost für Israel:
das Leid wird als Folge der Untreue erklärt, nicht als blinder Zorn;
gleichzeitig verheißt sie göttliche Rückkehr und Erlösung, was ein Hoffnungsschimmer in der Zeit des Exils bedeutete;
in den Zeiten besonderer Verfolgung, etwa im Mittelalter oder während der Schoa, wurde sie als geistliche Erklärung und Trosttext herangezogen;
rabbinisch-kabbalistische Tiefe:
Raschi, Ramban u. a. deuten sie als komprimierte Geschichte Israels;
in der Kabbala wird sie im Wechselspiel göttlicher Dynamik zwischen Din (Gericht) und Rachamim; (Barmherzigkeit) verstanden;
in der Erziehung und Schulbildung:
wird die schira als Schlüsseltext für die Geschichte Israels gelehrt;
sie dient als Einstieg in Themen wie Bund, Verantwortung, Exil und Erlösung;
Zum Abschluss lässt sich sagen: Rabbiner wie Elisa Klapheck und Walter Rothschild deuten die schira als spirituelle Inventur – ein Lied, das Herz und Geschichte verbindet. Auch die Allgemeine Rabbinerkonferenz (ARK) erkennt in ihr eine prophetische Matrix, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen. So bleibt ‚haAsinu‘ nicht nur ein Text, sondern ein lebendiger Spiegel für die jüdische Existenz.
Euch allen Schabbat Schalom und chag-ssameach leSukkot!
[1] 5. Mo. 32, 20: „Und er sprach: Ich werde mein Angesicht vor ihnen verbergen“
וַיֹּאמֶר אַסְתִּירָה פָנַי מֵהֶם wa’jomer asstira panaj mehem
hester-panim – הֶסְתֵּר פָּנִים bedeutet „das Verbergen des Angesichts“ – das ist die göttliche Verborgenheit, was ein tiefes theologisches Konzept im Tana’ch und in der rabbinischer Literatur bezeichnet. Hester panim beschreibt also Situationen, in denen Gott scheinbar seine Gegenwart verbirgt und das Volk Leid oder Verwirrung erfährt. Es ist kein völliges Verlassen, sondern eine verborgene Führung. Ein klassisches Beispiel findet sich in:
dvarim / 5. Mose 31, 17–18, wo der Ewige ankündigt und (wörtlich) sagt: „[Dann] ich – verbergen werde ich, verbergen mein Angesicht“
וְאָנֹכִי הַסְתֵּר אַסְתִּיר פָּנַי weAnochi hasstar-asstir panaj
= die doppelte Verwendung dieses Verbs unterstreicht: Ich werde gewiß mein Angesicht verbergen!
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